In familiären Konflikten wird sehr oft die Schuldfrage gestellt: Wer ist denn nun schuld daran, dass das Kind andere Kinder haut? Daran, dass das Paar sich ständig streitet? Daran, dass sich der erwachsene Sohn mit den Eltern entzweit hat? Dabei ist der Begriff der Schuld in zwischenmenschlichen Beziehungen* zu nichts gut. Ich sag: Wirf ihn in die Tonne.
Es gibt viele Konflikte, bei denen die Parteien nach vielen Jahren gar nicht mehr wissen, worum es eigentlich ging. Sie wissen nur noch: Die jeweils andere Seite ist schuld an der Misere. Das kann ein entlastender Gedanke und damit auch völlig in Ordnung sein. Wenn sowieso niemand den Wunsch verspürt, sich wieder zu vertragen, dann schadet der Schuldbegriff erst mal nicht - wobei er natürlich die (womöglich gewinnbringende) Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung verhindert.
Aber wenn es den Wunsch nach Einigung gibt, etwa im Beziehungsstreit (hier geht es ausdrücklich nicht um Gewalt oder anderen Missbrauch, sondern um "normale" Streitigkeiten), dann verhindert das Beharren auf der Schuldfrage, sich mit dem eigentlichen Thema zu beschäftigen. Die Frage, wer denn nun (mehr) Schuld hat, wirkt trennend. Wenn wir uns das bildlich vorstellen, stehen sich zwei gegenüber und zeigen jeweils mit dem Finger aufeinander. "Du!" - "Nein, du!"
Eine sehr erfahrene Paartherapeutin sagte mir: "Der Durchbruch in der Paarberatung kommt in den meisten Fällen dann, wenn beide einsehen, dass es möglich ist den anderen zu verletzen, ohne dabei Schuld auf sich zu laden."
Ein Beispiel aus meiner eigenen Beziehung: Ich finde das Gefühl scheußlich, ignoriert zu werden. Das löst bei mir ganz starke negative Gefühle aus. Und zwar auch dann, wenn mein Mann mich gar nicht wirklich ignoriert, sondern z.B. nicht richtig zuhört, weil er mit etwas anderem beschäftigt ist - ohne jede böse Absicht. Er löst dann unwissentlich mit seinem Verhalten negative Gefühle in mir aus. SCHULD ist er nicht daran, dass es mich verletzt.
Dieser Konflikt ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie unnütz die Frage nach der Schuld ist. Wir könnten jetzt nämlich ewig darüber diskutieren, wer schuld ist. Hier der vermutete Ablauf: Ich wäre beleidigt. Er würde fragen warum. Ich würde ihm vorwerfen, dass er mich ignoriert hat. Er würde sich furchtbar ungerecht behandelt fühlen (denn: Hat er ja nicht) und würde in die Defensive gehen. Ich würde mich unverstanden fühlen, nimmt er denn meine Gefühle nicht ernst? Am Ende stünden zwei gekränkte und sich unverstanden fühlende Menschen einander gegenüber.
Was ist nun die Alternative zur Frage nach der Schuld? Wofür entsteht Raum, wenn wir die Frage weglassen? Letztlich geht es um unsere Gefühle. Und die sind nie richtig oder falsch. Sie sind einfach da und wollen gefühlt werden. Wer also sagt "Du hast keinen Grund, jetzt beleidigt zu sein!", der wehrt damit wahrscheinlich seine eigene Schuld ab. Klar: Wenn eine*r beleidigt ist, muss es ein beleidigendes Gegenüber geben. Das Gefühl, das hinter dem Beleidigtsein steht, ist aber vermutlich Schmerz, Wut, vielleicht auch Angst. Und diese Gefühle können wir auch unbeabsichtigt auslösen.
Wir sind komplexe Wesen: Alles, was wir bisher erlebt haben, beeinflusst, wie wir auf Situationen reagieren. In meinem Leben gab es ganz offensichtlich die schmerzliche Erfahrung, ignoriert zu werden. Das hat erst mal nichts mit meinem Mann zu tun. Aber es erklärt, warum ich auch bei ihm auf bestimmte Verhaltensweisen empfindlich reagiere.
Ich halte den Begriff "Entschuldigung" in diesem Zusammenhang für ungünstig. Denn er setzt eigentlich voraus, dass es eine Schuld gibt, von der jemand sich befreien muss, indem er*sie um Entschuldigung bittet. Dabei kann ich auch sagen "Es tut mir leid, dass ich diese Gefühle in dir ausgelöst habe. Das wollte ich nicht." Das ist kein Eingeständnis von Schuld, sondern ein Zeichen dafür, dass ich die Gefühle der anderen Person wertschätze und mir ihr Wohlergehen am Herzen liegt.
Das klappt allerdings nur, wenn wir Konflikte nicht als Machtspielchen betrachten, bei denen immer eine Seite gewinnt und die andere verliert - denn dabei können beide nur verlieren.
*missbräuchliche Beziehungen sind hiervon ausdrücklich ausgenommen.